Der Drachenkönig ist da!

 

Liebe Europäer, machen Sie sich keine Illusionen: Dies ist kein lokaler Konflikt, der morgen zu Ende sein wird. Dies ist der dritte Weltkrieg. Und die zivilisierte Welt hat kein Recht, diesen zu verlieren, wenn sie sich für zivilisiert und unabhängig hält.“ Serhij Zhadan auf Spiegel Online

Der Historiker Niall Ferguson untersucht in seinem Buch Doom verschiedene historische Katastrophen, vor allem in Hinblick auf Corona, aber auch in Hinblick auf Kriege. Als konservativ-positivistischer Historiker bleibt er bei der Erkenntnis der Hintergründe notwendig hilflos. Ja, er lehnt Versuche ab, die deutsch-kaiserliche Flottenpolitik mit dem 1. Weltkrieg in Verbindung zu bringen. Aber er liefert eine Menge Material. Und ein Drei-Stufen-Model für Katastrophen.

  1. 1.Das graue Nashorn, welches deutlich sichtbar angerannt kommt und auf welches man sich einstellen kann. 

  2. 2.Der schwarze Schwan, in der Wissenschaftstheorie gerne genommenes Bild des Überraschenden, für Katastrophen, die nicht oder nur von wenigen gesehen wurden. 

  3. 3.Der Drachenkönig, welcher eine umfassende und umwälzende Katastrophe ist, welche von niemandem vorausgesehen wurde und alle Dimensionen sprengt. 

Corona und die Anerkennung der Pseudostaaten in der Ostukraine samt russischer Besetzung waren graue Nashörner. Niemand sollte von Ihnen überrascht sein. Von Corona nicht wegen Mars und Sars. Und von der Ostukraine nicht wegen der Annektion der Krim. Und hätte Russland sich auf Letzteres beschränkt, wäre es auch so geblieben.

Der Versuch der kompletten Besetzung der Ukraine war für viele ein schwarzer Schwan. Trotz im Nachhinein klar erkennbarer Ankündigungen Putins haben nur wenige im Westen damit gerechnet. Polen und andere osteuropäische Staaten haben schon länger, leider vergeblich gewarnt. Zusätzlich gibt es in der ostdeutschen Bevölkerung und in der westdeutschen Linken inklusive Teilen der SPD einen romantischen Blick auf Russland, ein Nachwirken der Sympathien für die Oktoberrevolution.

Aber ich glaube nicht, dass es bei diesem schwarzen Schwan bleibt.

Der Drachenkönig kommt oder ist vielleicht schon da!

Und der Drachenkönig wird Ähnlichkeit mit dem Ersten Weltkrieg haben.

Viele Zeitzeugen berichten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg von einer großen atmosphärischen Spannung. Diese Spannung resultierte aus dem Ermüden der imperialistischen Expansion. Die Welt war verteilt. Die wesentlichen Inwertsetzungen der eroberten Gebiete waren in die Wege geleitet. Aber einige Länder fühlten sich benachteiligt. Zudem waren es genau diese Länder, welche zwar eine starke kapitalistische Entwicklung genommen haben, aber sich weigerten, den feudalen Überbau abzustreifen: Deutschland und später Japan. Oder auch die kapitalistische Entwicklung ein Stück weit verpasst hatten: Österreich-Ungarn. Das Zu-Kurz-Gekommen-Sein und die Unfähigkeit, geradezu Unwilligkeit zu inneren, Kapitalismus-konformen Änderungen des Überbaus und der gesellschaftlichen Strukturen machten eine aggressive Außenpolitik, begleitet mit Aufrüstung (z.B. deutscher Flottenbau), unumgänglich. Man brauchte Platz für die weitere imperialistische Expansion, welche durch die anderen imperialistischen Mächte blockiert wurde. Und man brauchte ein Ventil für die inneren Spannungen.

Diese drei Mächte brauchten den Krieg (Japan war zwar im ersten Weltkrieg auf der Seite der Entente, weil es sich deutsche Kolonien erhoffte, begann danach aber einen Eroberungszug und wechselte im zweiten Weltkrieg auf Deutschlands Seite.).

Heute haben wir eine ähnliche Situation.

Nachdem sich der Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase nach zwei Weltkriegen für eine Weile stabilisiert hatte, wurde er seid Anfang der siebziger Jahre in eine neue Phase geworfen. Ich nenne diese Phase Strukturimperialismus. Es findet keine eindimensionale, im wesentlichen küstenorientierte Eroberung statt wie im Kolonialismus. Es findet keine zweidimensionale Eroberung statt wie im in die Fläche eindringenden Imperialismus samt dessen Indirect Rule. Sondern es findet weltweit ein Eindringen in die dritte Dimension statt.

Die erste Parole, die diese dritte Dimension zum Thema machte, kam von der Achtundsechzigern: „Das Private ist politisch!“ Der Kapitalismus hat sich an die Inwertsetzung sämtlicher gesellschaftlicher Zusammenhänge weltweit gemacht. Man kann es die ursprüngliche Akkumulation des Privaten nennen. Die Postmoderne ist der frühe philosophische Aufschein und findet sein passendstes Bild im Rhizom von Deleuze/Guatarri. Der Kapitalismus macht jetzt mit aller Konsequenz war, was Marx und Engels schon gesehen haben: Er löst alle vorkapitalistischen Strukturen auf. Weltweit. Und jetzt auch zum Beispiel seine bisherige patriarchale Grundlage.

Der Kolonialismus wurde getrieben durch die Entwicklung der mechanischen Produktivkräfte, namentlich der Dampfmaschine. Die herausragende Figur ist die kapitalistische Einzelperson. Philosophisch prägend ist der Kantianismus. Der Imperialismus wurde getrieben durch die Entwicklung der chemischen Produktivkräfte. Der Aufschwung der chemischen Industrie war Voraussetzung für den Ersten Weltkrieg mit der Herstellung von Kunstdünger, neuen Sprengstoffen und Giftgasen. Begleitet wurde dies durch einen Aufschwung der Elektrizität. Letzteres ist ein integraler Bestandteil der chemischen Produktivkräfte. Hier steht nicht mehr die Einzelperson, sondern die Menge/Masse im Vordergrund. Wie dies auch, zusammen mit der Reinheit, eine zentrale Kategorie chemischer Reaktionen ist.

Ermöglicht, getragen und vorangetrieben wird der Strukturimperialismus durch die Entfaltung der biologischen Produktivkräfte im gegenwärtigen Kapitalismus. Kernelemente der Biologie sind genetische Information, Regelkreisläufe, kleinere und größere Systeme. Deshalb ist der gleichzeitige Aufschwung der Informationstechnik kein Zufall. Die Informationstechnik ist ontologisch betrachtet biologisch. Die Bioinformatik nimmt als Schnittstelle inzwischen einen hohen Stellenwert ein. Ohne Informationstechnologie wären weder die epidemiologischen Voraussagen noch die schnelle Entwicklung der Impfstoffe in diesen Corona-Zeiten möglich.

Die Produktionsmittel werden teils umgebaut, teils ergänzt oder gleich komplett neu entwickelt. Die Produktivkräfte müssen sich dem anpassen. Dies ist immer noch mit vielen Hindernissen behaftet. Immer noch werden IT-Projekte bewusst oder unbewusst von den Arbeitskräften sabotiert. Dies funktioniert anders als bei den Maschinenstürmern früherer Tage. Es reicht, Informationen über Produktionsabläufe nicht oder nur unvollständig an Entwickler, Projektleiter oder auch Vorgesetzte weiterzuleiten. Oder die Anforderungen so zu überfrachten, dass diese in hundert Jahren nicht fertig werden. Als Konsequenz daraus hat sich das Consulting-Wesen entwickelt. Das Kapital muss von außen die notwendige Expertise und Umgestaltungsdynamik in die Betriebe bringen. In Deutschland entwickelt das besondere Blüten, weil hier auch viele Vertreter des Kapitals von der Familienklitsche bis zum DAX-Vorstand sehr IT-feindlich sind. Aber das Problem gibt es weltweit. Insbesondere das mittlere Management ist definitiv in seiner Existenz bedroht. Seine Funktionen sind und bald waren Verteilung von Information und Überwachung der Produktion. Beides können Computer viel besser. Weiterhin kann der Kapitalismus als Strukturimperialismus keinerlei Beschränkungen durch überkommene Machtpostionen mehr dulden. Die Ankündigung von mehr Diversität von Arbeits-Teams bis in die Vorstände, die Legalisierung homosexueller Ehen und so weiter sind ernst zu nehmen. Aber natürlich nicht ohne Widerstände der bisher Privilegierten.

Noch größere Widerstände gibt es im Überbau. Die beste staatliche Digitalisierung gibt es nicht überraschend in relativ jungen Staaten wie den baltischen oder eben auch der Ukraine. Oder in Staaten, deren Übergang von der Entwicklungsdiktatur zur bürgerlichen Demokratie noch nicht lange her ist wie Taiwan und Südkorea. Besonders schwer tun sich Deutschland und Japan, welche die Trägheit der alten feudalen Systeme in ihre Bürokratien hinübergerettet haben. In Japan sind meines Wissens nach zehn Stationen für eine Covid-Impfung zu durchlaufen mit jeder Menge Formulare. Schwer tut sich auch die amerikanische Mittelschicht, welche weltweit privilegiert war. Diese Digitalisierungs-Verlierer in den Betrieben und Verwaltungen haben Trump gewählt. Und in Brasilien Bolzonaro. Und in Deutschland AFD. Und in Frankreich sind dies die Gelbwesten. Sie werden nicht zu den Gewerkschaften und den Sozialisten gehen, sofern es die noch gibt, sondern zu den Faschisten. Und die „Sozialisten“, welche die Sozialpolitik mit strukturellem Konservatismus verbinden, landen auch dort (früh Jürgen Elsässer, jetzt Lafontaine, Wagenknecht und Co.).

Während die bürgerliche Demokratie ein gewisses Maß an Flexibilität beinhaltet, um mit diesen Veränderungen umzugehen, sieht dies in autoritären Systemen anders aus. In Afrika, vor allem Nord- und Westafrika, können Menschen, welche die Widersprüche zwischen technischer und anderer Modernisierung und den alten gerontokratischen, sprich feudalen Strukturen nicht mehr ertragen, kaum etwas anderes tun, als auszuwandern. Marx ging, und mit ihm viele Marxisten und auch andere Linke, davon aus, dass der Feudalismus schon im Wesentlichen vom Kapitalismus hinweggefegt worden sei. Dem ist mitnichten so. Schon ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt, wie lange sich die feudalen Reste gehalten haben. Und wie fatal es sein kann, wenn der Feudalismus zu lange gegen den Ansturm des Kapitalismus, vor allem gegen dessen dominierende Überbauform „Demokratie“ verteidigt werden kann.

Wer die Situation im globalen Süden verstehen möchte, muss sehen, dass sich dort unter dem Deckmantel kapitalistischer Staaten in weiten Teilen gerontokratische, patriarchale Feudalgesellschaften erhalten haben. Die jüngere Geschichte ist voll mit Beispielen von zum Teil erfolgreichen Versuchen feudaler Restauration. Als Musterbeispiel sei hier der Iran genannt. Dort hat die Linke gegen die Unterdrückung und den Terror durch den Schah rebelliert. Aber der Basar hat gegen die durchaus erfolgreiche kapitalistische Modernisierungspolitik des Schah rebelliert. Solche Bündnisse sollte die Linke nie wieder eingehen. Ein jüngeres Beispiel: Boko Haram - „Westliche Bildung verboten“. Der Islamismus und Ähnliches entstehen nicht durch mangelhafte Entwicklung, sondern im Gegenteil durch den Widerstand gegen erfolgreiche Modernisierung. Auch die sogenannten Fluchtursachen wie Armut halten einer näheren Betrachtung nicht stand. Es migrieren vor allem Menschen aus der Mittelschicht nach Europa, deren kapitalistische Ambitionen durch starre Feudalstrukturen ausgebremst werden oder deren politische Aktivitäten für die feudale Elite lästig werden. Wie sehr die alten Eliten der Veränderung widerstehen, konnte man am gescheiterten Wahlkampf von Youssou N’Dour sehen. Der international erfolgreich Sänger wollte eine Modernisierung vorantreiben. Er hatte genügend Geld und Ansehen, um eventuell erfolgreich zu sein. Und versetzte so die traditionellen Eliten in Panik. Heute ist der Einsatz der EU, vor allem Frankreichs, in Mali gescheitert, weil sie ebenfalls für eine Modernisierung stehen. Deshalb haben sich die Putschisten an Russland gewandt, von dem ein solches Einfordern von Reformen nicht zu erwarten ist. Gleichfalls nützt das Verzichten auf Menschenrechte China bei seiner Expansion in Afrika. Armut und Krieg führen dagegen eher zu einer Binnen- oder Nah-Migration, da gar nicht erst die Mittel für den Weg nach Europa aufgebracht werden können. Für Mittelamerika gilt ähnliches. Auch wenn die Migration nach Europa oder in die USA nicht aus primär politischen Gründen erfolgt, ist sie als Flucht vor dem Feudalismus absolut legitim.

Digitalisierung, Internet, Soziale Medien und Mobiltelefonie sind auch nicht nur ein Mittel, sondern vielmehr die Ursache für den Arabischen Frühling, da sie eine kommunikative Öffnung der Gesellschaft bewirken. Ähnlich wie in Westafrika werden die Menschen in der weiteren Entwicklung ihrer Gesellschaft gehindert. Die Aufstände wurden niedergeschlagen oder durch die alten Eliten aufgesogen. Ein Eingriff von außen ist aber auch nicht wünschenswert, wie das Beispiel Libyen zeigt.

Genau diese Widerstände gibt es auch in drei der größten Staaten der Erde: Russland, China und auch Indien. Indien hat sich deshalb bei der Verurteilung Russlands wegen des Ukraine-Kriegs  zurückgehalten. Der Hindu-Nationalismus von Narendra Modi unterscheidet sich nicht sehr vom Panslawismus eines Putin oder dem aggressiven sinozentrischen Konfuzianismus eines Xi. In Indien gärt es schon lange. Die Frauen verlangen zunehmend Emanzipation. Die Unberührbaren fordern das Ende der gesellschaftlichen Ächtung und vollen Zugang. Die Digitalisierung sorgt für immer mehr Konflikten innerhalb der Familien der Mittelschichten.

Russland stand Ende der Neunziger vor der Wahl, nach dem chaotischen Jahrzehnt der Öffnung die industriellen und intellektuellen Potentiale in geordneten und demokratischen Formen zur Grundlage der Weiterentwicklung zu machen. Im Bereich IT und Medien gab es genug Initiativen in diese Richtung. Oder sich in einen Rohstoff-Feudalismus zu verwandeln, wie es andere Länder auch schon erlebt haben, sei es auf der Basis von Latifundien, Erzen oder Öl. Russland hat sich für letzteres entschieden, u.a. mit Weizen, Nickel, Erdöl, Erdgas. Eine solche extraktive Ökonomie kann keine Demokratie, keine wirkliche Opposition gebrauchen, da die Kontrolle des Staates über die Verteilung der Rohstoff-Renten entscheidet. Sie bedarf sowohl eines hohen Maßes innerer Gewalt wie auch ideologische Formierung. Eine solche Ökonomie kennt keine innere Entwicklung. Die einzige Entwicklung ist die Erschließung neuer Rohstoffe. Die einzige Erweiterung, welche möglich ist, ist die Eroberung. Auch die zunehmenden und unterdrückten inneren Widersprüche können irgendwann nur noch nach außen verlagert werden. Die Folge ist ein Angriffskrieg wie in der Ukraine.

Chinas Weg war eigentlich seit dem Tian’anmen-Massaker entschieden. Die Eliten der Kommunisten Partei wollten wirtschaftliche Modernisierung ohne gesellschaftliche Modernisierung. Verschärft hat sich das seit dem Machtantritt von Xi.
Auch China kann in Versuchung kommen, die inneren Widersprüche nach außen zu tragen. Ein Einmarsch Chinas in Taiwan ist für die nähere Zukunft im Bereich des Möglichen. Und das wird erheblich schlimmer als in der Ukraine.

China wird noch rücksichtsloser und brutaler als die Russland  vorgehen. Der Vormarsch auf Kiew scheiterte wohl auch, weil viele Soldaten relativ unwillig sind. Es gibt Hinweise auf Desertation u.ä in der Ukraine. Das wird es bei den Chinesen nicht geben. China wird aus der Ukraine seine eigenen Lehren ziehen und die werden nicht sehr erfreulich sein. Wahrscheinlich werden sie sofort mit einer massiven Bombardierung anfangen.

Der Einmarsch in Taiwan wird aus drei weiteren Gründen noch katastrophaler sein.

Erstens ist die taiwanesische Armee seid Jahrzehnten aufgebaut und ausgerüstet worden. Deshalb muss China von Anfang an mehr Gewalt aufwenden.

Zweitens haben die USA Verpflichtungen gegenüber Taiwan, welche eine direkte Konfrontation USA-China, welche ohnehin schwelt, wahrscheinlicher machen.

Drittens liegen große und zentrale Teile der internationalen Hardware- und Chip-Produktion in Taiwan. Eine Zerstörung, Beschädigung oder auch nur vorläufige Produktionsunterbrechung würde die derzeitige Chipknappheit enorm verschärfen. Dies hätte fatale Folgen für die Weltwirtschaft. Und der Ausbau erneuerbarer Energien, welche auf ebendiese Chips angewiesen sind, als Ersatz auch für russische Energieträger würde massive ausgebremst.

China will nicht nur Taiwan heim ins Reich holen. Die Idee eines unteilbaren Chinas ist aber sicherlich das stärkste Motiv.

Aber genauso wie Putin neben seinem Panslawismus und dem Traum von einem großrussischen Reich auch Angst hat vor einem demokratischen Land, welches Russland recht ähnlich ist, so hat China auch zunehmend Angst vor der Demokratie in Taiwan. China hat die Demokratiebewegung in Hongkong zerschlagen. China fördert antidemokratische Kräfte in der ganzen Welt. China akzeptiert keine Kritik, von niemandem nirgendwo. Taiwan hat sich dagegen von einem konfuzianisch-faschistischen Land, welches es als Zuflucht der Kuomintang war, zu einer der wenigen funktionierenden bürgerlichen Demokratien in Ostasien gewandelt. Solange die wirtschaftliche Entwicklung in China mit einer leichten, sehr leichten Offenheit einher ging, konnte dies von China noch verkraftet werden. Aber seitdem Xi die Macht übernommen hat, werden die wenigen Elemente sowohl ökonomischer wie politischer Offenheit zurückgenommen. Die IT-Konzerne werden an die Kette gelegt. Zensur und Überwachung werden massiv ausgebaut. Da passt ein erfolgreiches, demokratisches Land, welches sich auf die gleichen kulturellen und geschichtlichen Hintergründe berufen kann, überhaupt nicht ins Konzept und muss zerstört werden.

Neben der Kontrolle nach innen fährt China aber auch einen aggressiven Expansionskurs nach außen. Länder werden mit Krediten abhängig gemacht (mit später fatalen Folgen wie jetzt in Sri Lanka). In Afrika findet ein massives Landgrabbing statt. Militärposten werden eingerichtet. Mit der neuen Seidenstraße geraten auch immer mehr europäische Länder in Abhängigkeit von China. So wie Deutschland sich willentlich in eine Energie-Abhängigkeit von Russland begeben hat, so passiert das Gleiche im Bereich der Logistik mit China. Der ideologische Überbau für diese Expansion ist die modernisierte Fassung des Tianxia - "Alles unter einem Himmel". Damit ist am Ende eine konfuzianische Weltgesellschaft nach Art einer hierarchischen, traditionellen Familie gemeint. Das Familienoberhaupt und damit de facto Weltherrscher wäre China. Russland vielleicht noch ein Juniorpartner. Siehe "Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung" von Zhao Tingyang.

Nicht zuletzt kann China versucht sein, von seinen inneren Widersprüchen durch einen Krieg abzulenken. Wenig bekannt ist, dass China eines der Länder mit der höchsten Streikrate weltweit ist. Diese bleiben in der Regel lokal und werden schnell niedergeschlagen. China hat immer noch einen riesigen Klotz alter Staatskonzerne im Bereich der Schwerindustrie am Bein. Dazu hat sich eine riesige Immobilienblase gesellt, welche jederzeit platzen kann. Diese Blase ist verbunden mit einer enormen Binnenverschuldung sowohl von privaten Haushalten wie von Firmen. Bisher gilt der unausgesprochene Deal: Ihr haltet die Klappe, wir, die kommunistische Partei, regieren und dafür dürft ihr reich werden und konsumieren. Sollte es im Gefolge des Ukraine-Krieges zu einem Wirtschafts-Einbruch kommen, könnte das die Aufkündigung dieses Deals bedeuten. Er würde dann durch einen Kriegspatriotismus ersetzt werden.

Dabei wäre es eigentlich für China längst an der Zeit, den Beispielen Taiwan oder Südkorea zu folgen und seine erfolgreiche Entwicklungsdiktatur in eine noch erfolgreichere bürgerliche Demokratie umzuwandeln.

Aber es gibt auch die andere Seite. Es gibt junge (und auch ältere Menschen), welche mit der Digitalisierung zurechtkommen, ja deutlich von ihr profitieren. Sie merken jeden Tag, im Privaten wie bei der Arbeit wie bei den Behörden, dass sie permanent ausgebremst werden. Die IT-Unternehmen der Ukraine (Die Ukraine war auf dem besten Wege Richtung einer erfolgreichen IT-Wirtschaft mit zigtausenden IT-Absolventen jedes Jahr und entsprechenden Startups) sind eine der Säulen des Widerstands gegen die russische Invasion. Die westlichen IT-Unternehmen waren schneller in der Umsetzung der Sanktionen als viele andere Bereiche. Und Elon Musks Beitrag (man muss ihn deswegen noch nicht mögen) mit seinen Satelliten ist real.

Eine Zeit lang war ein Multilateralismus im Westen populär. Auch in den Medien ist dessen Ende angekommen. Es stehen sich jetzt zwei Lager gegenüber.

Das eine Lager besteht aus strukturkonservativen, feudalen Staaten. Ihre wirtschaftliche Macht beruht in weiten Teilen auf Rohstoffen. Oder es sind Entwicklungsdiktaturen, deren Eliten den Übergang in eine bürgerliche Demokratie verweigern. Dieses Lager hängt an den fossilen Energieträgern und an zentralen Machtstrukturen. Deshalb müssen Klimapolitik und weitere Demokratisierung bekämpft werden.

Auf der anderen Seite stehen bürgerlich-demokratische Staaten, die langsam die Transformation von fossiler und fordistischer Wirtschaft in Richtung Digitalisierung, Ökologisierung und Biologisierung der Wirtschaft vornehmen. Dies kann nur mit weiterer Öffnung der gesellschaftlichen Strukturen gelingen.

Auf beiden Seiten gibt es jeweils auch Elemente des anderen. Historische Entwicklungen sind immer geprägt von Widersprüchen und nie gradlinig. In einer solchen Umbruchszeit macht es keinen Sinn, von DEM Kapital zu sprechen. Es gibt das Kapital ZWEIMAL.

Es gibt das alte carbonized Kapital: Chemieindustrie, Autoindustrie etc. Es gibt das neue Kapital, welches primär Information und Elektronik einsetzt. Dieses unterstützt massiv Decarbonizing. Dazu gehört auch die sich immer schneller entwickelnde Bioindustrie. Auch sie arbeitet primär mit Information, sei es materiell mit DNA oder in Form von riesigen Datenmengen in der Bioinformatik. Ein Konzern wie Monsanto oder auch passend der Käufer Bayer behandeln zwar biologische Probleme, aber mit einem chemischen Ansatz (z. B. Roundup). Diese beiden Kapitale brauchen einander in wechselnden Machtverhältnissen, sind miteinander verflochten, bekämpfen sich. Analytisch sollten sie aber strikt getrennt werden. Sie sind auch nicht einfach verschiedene Kapitalfraktionen wie z. B. Grundkapital, Finanzkapital, Industriekapital etc. Diese Kapitalfraktionen bilden sich auf Grund von unterschiedlichen Funktionen innerhalb einer Entwicklungsstufe des Kapitals und haben damit neben widerstreitenden Interessen ein kapitalistisches Gesamtinteresse. Aber die beiden Kapitale, chemisch und biologisch, bilden eine historische Abfolge. Das neue Kapital wird das alte Kapital zum Teil vernichten, zum Teil aufheben. Dies wird von den feudalen Staaten als Hebel zur Spaltung verwendet – eine Spaltung wie der Brexit.

Deshalb ist dieser Weltkrieg auch ein Stück weit ein Welt-Bürgerkrieg.

Die Klimaleugner leugnen den Klimawandel, weil sie in dessen Bekämpfung die Gefahr einer Abkehr von der chemischen, fossilen Lebensweise fürchten.

Die Corona-Leugner leugnen Corona oder verteufeln die Impfungen, weil eine rationale, auf biologisch-wissenschaftlichen Grundlagen beruhende Umgehensweise mit der Pandemie eine Abkehr vom Fatalismus des chemischen Zeitalters und damit von Ihrer Lebensweise bedeutet.

Die Gegner von Elektroautos fürchten den Abschied von fossilen Energieträgern, weil dies den Abschied von ihrer Lebensweise bedeutet.

Die Gegner geschlechtlicher Emanzipation inklusive LGBT-Anerkennung fürchten dies doppelt. Letzteres ist eine rationale Anerkennung der biologischen Diversität des Geschlechtlichen und eben auch der Abschied von feudalen Abhängigkeit (Simone de Beauvoir) der Frau vom Mann.

Deshalb gehen die Auseinandersetzungen quer durch die Familien und (vorherigen) Freundeskreise. Sie gehen quer durch die Staaten selber. Aber eben auch zwischen den Staaten, bis hin zum jetzigen Krieg in der Ukraine.

Deshalb ist die Schnittmenge zwischen Klima- und Corona-Leugnern und Gender-Gegnern so immens groß.

Deshalb ist Putin zum Helden für alle geworden, welche am chemisch-fossilen Kapitalismus samt Patriarchat festhalten wollen.

Die wichtigste Aufgabe ist jetzt die Erhaltung der Lebensgrundlagen. Ohne intakte Lebensgrundlagen wird es keine weiteren gesellschaftlichen Fortschritte geben und erst recht keinen Sozialismus. Daher müssen Atomkatastrophen, Klimawandel, Artensterben, Pandemien und Kriege bekämpft werden.

Des Weiteren muss die quasi-feudale und fossile Reaktion bekämpft werden. Eben auch die inneren Widersprüche der bürgerlichen Demokratien müssen angegangen werden. Im Kampf zwischen altem, fossilen, fordistischen, chemischen Kapital und neuem, biologischen, digitalen Kapital muss man sich auf die Seite des neuen Kapitalismus stellen.

Bemühungen um eine weitergehende Emanzipation bis hin zu einer sozialistischen Weltrevolution sind damit nicht ausgeschlossen, sondern sollten integraler Bestandteil dieses Kampfes sein.

Ganz klar muss man sich auf die Seite des bürgerlichen Kapitalismus stellen, wenn dieser wie in der Ukraine und, wie ich befürchte, bald auch in Taiwan in einen Krieg mit reaktionären, feudalen, autoritären Systemen gerät.