Die ursprüngliche biologische Akkumulation - PDF

Was passiert in der Welt zur Zeit? In welche Epoche leben wir? Was ist DAS grundlegende ökonomische Momentum?

Es ist die ursprüngliche biologische Akkumulation.

Was ist die ursprüngliche biologische Akkumulation? Fangen wir bei dem letzten Wort dieses Begriffs an: Akkumulation. Akkumulation ist die Akkumulation von Kapital. Warentausch und Geldwirtschaft sind noch kein Kapitalismus. Kapitalismus existiert nur dort, wo ein Teil des produzierten Mehrwerts nicht nur zur einfachen Reproduktion, sondern zur Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter eingesetzt wird. Dies gelingt nur, wenn im Produktionsprozess eine Aneignung des Mehrwerts stattfindet, die nicht auf Konsumtion oder Reproduktion der Arbeitsmittel abzielt. Dies wiederum setzt das Vorhandensein von Besitzern von Produktionsmitteln voraus, die selber nicht arbeiten, und Besitzern von Arbeitskraft, die selber nicht über die Produktionsmittel verfügen.

Um Geld in Kapital zu verwandeln, genügte nicht das Vorhandensein von Warenproduktion und Warenzirkulation. Es mußten erst, hier Besitzer von Wert oder Geld, dort Besitzer der wertschaffenden Substanz; hier Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln, dort Besitzer von nichts als Arbeitskraft, einander als Käufer und Verkäufer gegenübertreten. Scheidung zwischen dem Arbeitsprodukt und der Arbeit selbst, zwischen den objektiven Arbeitsbedingungen und der subjektiven Arbeitskraft, war also die tatsächlich gegebene Grundlage, der Ausgangspunkt des kapitalistischen Produktionsprozesses.
- Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW 23 S.595

Im normalen Prozess der Kapitalakkumulation wird Geld in Ware verwandelt und die Ware wieder in Geld. Dabei wird das bei der Produktion der Ware entstandene Mehrprodukt (Das, was der Arbeiter mehr produziert als für seinen Lebensunterhalt im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendig.) in Mehrwert verwandelt und dem Kapital hinzugefügt. Dieser Akkumulationsprozess war aber nicht seit aller Ewigkeit vorhanden. Erst während eines gewaltsamen historischen Scheidungsprozess wurde einerseits der Arbeiter, ursprünglich Bauer oder Handwerker, von seinen Produktionsmitteln (Land und Werkzeug) getrennt, andererseits die zur Ingangsetzung der Akkumulation kritische Masse an Kapital zusammengefasst (geraubt). Diesen Vorgang nennt Marx ursprüngliche Akkumulation.

Der Prozeß, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozeß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens_ und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als "ursprünglich", weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet.
- Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW 23 S.743

Die bisherigen Produktionsmittel waren von Mechanik, Elektrik und Chemie geprägt. Jetzt beginnt eine Periode der Entwicklung und Anwendung biologischer Produktion. Damit diese Produktion im kapitalistischen Rahmen stattfinden kann, muss ebenfalls die Scheidung von Produzent und Produktionsmittel stattfinden. Dieser Scheidungsprozess der biologischen Produzenten und Produktionsmittel findet zur Zeit statt und ist der Auftakt einer neuen kapitalistischen Akkumulationsrunde. Es ist die ursprüngliche biologische Akkumulation.

Was beinhaltet biologische Produktion? Es ist zunächst einmal die unmittelbar biologische Produktion: Landwirtschaft und Fortpflanzung. Hier werden neue Techniken, neue Lebewesen eingeführt. Des weiteren bedeutet biologische Produktion auch die Ersetzung bisheriger Produktion, z.B. chemische, durch biologische Produktion, z.B. statt Synthese von pharmazeutischen Produkten nun die Produktion durch genmanipulierte Bakterien. Weiterhin umfasst die biologische Produktion auch die Bereiche der Reproduktion und Infrastruktur, die weitgehend vom Staat bereitgestellt wurden, weil der Kapitalismus selbst dazu nicht in der Lage war. Dies betrifft zum Beispiel die Bereitstellung von Wasser und medizinischer Versorgung. Nicht zuletzt gehören zur biologischen Produktion auch die Bereiche, die zwar nicht unmittelbar biologischer Natur sind, aber biologischem Paradigma gehorchen. Dies ist die Informationsindustrie. Jetzt sei zunächst nur auf Indizien verwiesen wie der Gebrauch biologischer Metaphern: Viren, Würmer, neuronale Netze und genetische Algorithmen. Von Seiten der Biologie aus deutet die genetische Information auf die Verwandtschaft zwischen beiden Bereichen hin. Die Wissenschaft, die die der Informationstechnik und der Biologie gemeinsam zu Grunde liegenden Gesetze untersucht, ist die zwar etwas in den Hintergrund getretene, aber dennoch sowohl historisch für die Entstehung beider Wissenschaften als auch systematisch von enormer Bedeutung seiende Kybernetik, deren Gegenstand wesentlich Regelkreise sind. Auf der Kybernetik aufbauend tritt heute auch die Systemtheorie als Bindeglied in Erscheinung.

Damit ist begrifflich geklärt, was mit ursprünglicher biologischer Akkumulation gemeint ist. Aber was bedeutet dies konkret? Wenn unsere Zeit wirklich geprägt von ursprünglicher biologischer Akkumulation sein soll, müssen wir konkrete Beispiele für die genannten Bereiche biologischer Produktion finden, in denen die Scheidung von Produzent und Produktionsmittel stattfindet.

Am offensichtlichsten ist dies im Bereich der so genannten Biopiraterie. Biopiraterie bedeutet die Aneignung biologischer Ressourcen, die sich meistens in einem informellen Besitzverhältnis befinden und/oder Allgemeingut einer Gesellschaft (so wie während der ersten ursprünglichen Akkumulation Gemeindegrund angeeignet wurde) sind. Beispielhaft ist die Erforschung von Heilpflanzen im tropischen Urwald durch Pharmaunternehmen, der anschließenden industriellen Herstellung der Wirkstoffe und vor allem deren Patentierung, die den ursprünglichen Eigentümern die Rechte raubt. Im Extremfall kann dies bis zu einem Nutzungs- und Anbauverbot führen. Gravierend ist auch die Patentierung von natürlich vorkommenden Genen. Damit können Tiere und Pflanzen der bisherigen Nutzung entzogen werden. Nicht vergessen darf man die Patentierung menschlicher Gene, zuletzt wieder einmal durch das Europäische Patentamt vorgenommen. Setzt sich dies durch, kann menschliches Leben einmal per se gebührenpflichtig werden, ganz zu schweigen von der Limitierung medizinischer Versorgung.

Ein weiterer Aspekt ist die Einführung genmanipulierter Lebewesen. Heute betrifft dies noch in großem Maßstab nur Pflanzen, aber die Ausweitung auf Tiere ist absehbar, die auf Menschen nicht ausgeschlossen. Diese Pflanzen erfordern manchmal eine Kombination mit bestimmten Chemikalien, sind manchmal nicht vermehrungsfähig, aber immer mit Patenten und Auflagen belegt, die verhindern, das Bauern ihr Saatgut reproduzieren. In diesem Zusammenhang ist die relativ zu den USA harte Linie Europas in der Frage des Anbaus und Vertriebs genmanipulierter Pflanzen auch eine ökonomische Abwehrstrategie gegen die USA, die bisher die meisten Patente besitzen.

Ein weiterer Bereich der zunehmenden Enteignung betrifft die menschliche Reproduktionsmedizin. Ein relativ harmloses Beispiel ist die Zunahme von Kaiserschnittgeburten, die häufig nicht mehr nur bei Risikogeburten eingesetzt werden. Gravierender ist die schleichende Durchsetzung von Präimplantationsdiagnostik, die eine neue Definitionsmacht über menschliches Leben bedeutet. Besonders arg kann sich aber die embryonale Stammzellenforschung und das therapeutische Klonen auswirken. Beides wird sich in größerem, ökonomisch sinnvollen Maßstab nur durchführen lassen, wenn genug Frauen als Schwangerschaftsarbeiterinnen zur Verfügung stehen. Eine ebenfalls grauenvolle Art der Enteignung ist der Organhandel und Organdiebstahl, der leider schon im Trikont und in Osteuropa in relevantem Umfang stattfindet. Die drei letzteren Punkte sind wahrscheinlich vorübergehende Erscheinungen, die mit der Entwicklung nicht-embryonaler Stammzellenlinien, Repotenzierung normaler Körperzellen und extrakorporalen Erzeugung von Ersatzorganen (bei Knorpel teilweise schon möglich) wieder hinfällig werden. Nichts desto trotz sind sie wichtige Schritte auf dem Weg der Enteignung der menschlichen Reproduktion, die anschließend vom Kapital als (Re-)Produktionsmittel verwendet wird.

Der zweite große Bereich betrifft die gesamtgesellschaftlichen, in Europa vor allem staatlichen Bereiche der Sicherung der Reproduktion. Seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts herrscht ein großer Druck, Wasser- und Stromversorgung, Müllentsorgung, Post und Telekommunikation zu privatisieren. Bisher öffentliche Betriebe, über Jahrzehnte mit Steuergeldern aufgebaut, werden verkauft. Geschieht dies in den Metropolen zwar mit Gewinn für den Käufer, aber doch oft tatsächlich noch zu marktüblichen Preisen, so ist die Privatisierung im Trikont kaum verhohlener Diebstahl. Die Gründe für diese Privatisierungswelle sind zweierlei. Zum einen ist die Gesamtmasse des Kapitals inzwischen so groß, dass es diese Aufgaben auch ohne den Staat erledigen kann. (Erledigen heißt natürlich nicht im Sinne einer angemessenen Grundversorgung, sondern profitablen Wirtschaftens.) Der tiefere Grund ist aber, dass diese Bereiche in der biologischen Produktion der Zukunft eine immer größere Rolle spielen werden. Im Bereich Müll ist dies das Recycling. Die Gelddruckmaschine Grüner Punkt weist den Weg. Im Bereich Strom ist die Privatisierung die Voraussetzung für den Einsatz erneuerbarer Energiequellen. Dies entspricht dem Muster der Enteignung der bis zum Beginn des Kapitalismus größten Autorität der Kirche, des Kirchenraubes während der Reformation. Auch die Privatisierung, wie man heute sagen würde, von Staatsland und Gemeindeeigentum war Teil der ursprünglichen Akkumulation.

Einen neuen furchtbaren Anstoß erhielt der gewaltsame Expropriationsprozeß der Volksmassen im 16. Jahrhundert durch die Reformation und, in ihrem Gefolge, den kolossalen Diebstahl der Kirchengüter. Die katholische Kirche war zur Zeit der Reformation Feudaleigentümerin eines großen Teils des englischen Grund und Bodens. Die Unterdrückung der Klöster usw. schleuderte deren Einwohner ins Proletariat. Die Kirchengüter selbst wurden großenteils an raubsüchtige königliche Günstlinge verschenkt oder zu einem Spottpreis an spekulierende Pächter und Stadtbürger verkauft, welche die alten Untersassen massenhaft verjagten und ihre Wirtschaften zusammenwarfen. Das gesetzlich garantierte Eigentum verarmter Landleute an einem Teil der Kirchenzehnten ward stillschweigend konfisziert.
- Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW 23 S.748f

Die "glorious Revolution" (glorreiche Revolution) brachte mit dem Oranier Wilhelm III. Die grundherrlichen und kapitalistischen Plusmacher zur Herrschaft. Sie weihten die neue Ära ein, indem sie den bisher nur bescheiden betriebenen Diebstahl an den Staatsdomänen auf kolossaler Stufenleiter ausübten. Diese Ländereien wurden verschenkt, zu Spottpreisen verkauft oder auch durch direkte Usurpation an Privatgüter annexiert. Alles das geschah ohne die geringste Beobachtung gesetzlicher Etikette.
- Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW 23 S.751f

Das Gemeindeeigentum - durchaus verschieden von dem eben betrachteten Staatseigentum war eine altgermanische Einrichtung, die unter der Decke der Feudalität fortlebte. Man hat gesehn, wie die gewaltsame Usurpation desselben, meist begleitet von Verwandlung des Ackerlands in Viehweide, Ende des 15. Jahrhunderts beginnt und im 16. Jahrhundert fortdauert. Aber damals vollzog sich der Prozess als individuelle Gewalttat, wogegen die Gesetzgebung 150 Jahre lang vergeblich ankämpft. Der Fortschritt des 18. Jahrhunderts offenbart sich darin, dass das Gesetz selbst jetzt zum Vehikel des Raubs am Volksland wird, obgleich die großen Pächter nebenbei auch ihre kleinen unabhängigen Privatmethoden anwenden.
- Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW 23 S.752f

Die seit Thatcher und Reagan betriebene Privatisierungspolitik von Wasserwirtschaft, Müllentsorgung und Gesundheitswesen sind nicht nur Ergebnisse neoliberaler Borniertheit und Gewinnmacherei. Sie deutet auch auf den Beginn einer grundlegend neuen Phase der Kapitalakkumulation, der biologischen, hin. Für diese muss wie am Beginn des Kapitalismus überhaupt die Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln erfolgen, sei die Verbindung auch indirekt über gesellschaftliche Einrichtungen vermittelt.

Ein weiterer wichtiger Bereich der ursprünglichen biologischen Akkumulation ist die Informationsindustrie. Wieso ist die Informationsindustrie "biologisch"? Sie ist natürlich nicht in einem platten Wortsinne biologisch, es geht bei der Informationsindustrie nicht um Lebewesen, jedenfalls noch nicht. Die Informationsindustrie gehorcht aber einer biologischen Dialektik (Engels), wenn man es anders ausdrücken möchte, dem biologischen Paradigma (Kuhn). Biologie und Informatik sind Wissenschaften einer ontologischen Stufe in unterschiedlicher Ausprägung. In den sechziger Jahren war die Nähe sogar noch etwas deutlicher in den Bezeichnungen, als die Informatik noch im wesentlichen als Kybernetik bezeichnet wurde, der Wissenschaft der Regelkreisläufe. Eine solche ontologische These lässt sich im strengen Sinne nicht beweisen. Das hat sie zum Beispiel nach Popper mit der Evolutionstheorie gemeinsam. Manche sprechen so einer These deshalb die Wissenschaftlichkeit ab. Aber solche Thesen, die sich zu Theorien entwickeln können, liefern erst die Erkenntnis von Zusammenhängen. Sie können erkenntnisleitend und -befördernd wirken. Sie erfahren ihre Rechtfertigung aus den mit ihnen erfolgten Erkenntnissen und ihrem umfassenden Erklärungspotential.

So kann hier nur in aller Kürze die These vom grundlegend biologischen Charakter der Informationsindustrie plausibel gemacht werden. Zunächst ist schlicht die historisch gleichzeitige Entwicklung der biologischen und informationstheoretischen Wissenschaft und Technologie festzuhalten. Beide haben zwar ihre diversen Vorstufen wie einfache Rechenmaschinen und Mendelsche Gesetze. Aber den wirklichen Durchbruch hatten sie beide Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Zu dieser Zeit wurde der erste frei programmierbare Computer gebaut und wesentliche theoretische Grundlagen gelegt (Turing, Gödel, Shannon, v.Neumann). In diese Zeit fällt auch die Entdeckung der DNA (Watson, Kricks), mit der erst die Erkenntnis der biologischen Vorgänge aus dem Bereich der - oft begründeten - Spekulation einerseits, äußerlichen Systematisierungen andererseits herausgehoben wurde. Dieser Schritt war offensichtlich mit der Entdeckung des zentralen Informationsspeichers in der Biologie verbunden. Lange Zeit sich dann parallel entwickelnd, verknüpfen sich die beiden Bereiche zunehmend. Zunächst von biologischen Modellen angeregt entwickelten sich Techniken wie neuronale Netze und genetische Algorithmen. Diese konnten inzwischen wieder für die Simulation biologischer Vorgänge eingesetzt werden. Rekursionen durch Computer haben viele scheinbar chaotische Formen in der Natur, vor allem bei Lebewesen, mathematisch verstehbar gemacht. Es gibt Planungen und erste Versuche, die Halbleiterelektronik durch DNA-Chips zu ersetzen. Halbleiterchips können inzwischen einfache Nervensteuerungen und -überbrückungen leisten. Das Internet ist auf dem Wege, das Nervensystem dieses Planeten zu werden. Die Bioinformatik ist ein sehr schnell wachsendes Teilgebiet der Biologie geworden. Ich bin überzeugt, dass diese These einerseits sehr umstritten sein wird, aber anderseits so viel Kraft hat, sich durchzusetzen, und, einmal akzeptiert, einen hohen Erkenntnisgewinn bedeutet.

So wie die eigentlich biologische Produktion und die staatlichen Reproduktionsindustrien ist auch die Informationsindustrie in die ursprüngliche biologische Akkumulation einbezogen. In der Informationsindustrie spielt das Patentrecht nur eine untergeordnete Rolle. Zwar gibt es laufend Klagen der Unternehmen untereinander wegen Verletzung von Lizenzbedingungen etc. Dies ist aber für die ursprüngliche Akkumulation ohne Bedeutung. Vielmehr kommen hier das Copyright und das Markenrecht zum tragen. Ferrero, Hersteller von "Kinderschokolade", hat sich zum Beispiel "Kinder" und daraus gebildete Namen als Marke sichern lassen. So wird jede Internetdomain, die sich in die Nähe dieses Namens begibt oder auch schon weit früher so hieß, mit Abmahnungen und Klagen bedroht. Aber auch viele andere Unternehmen gehen ähnlich rigoros vor. Tauschbörsen werden massiv von der Musikindustrie bekämpft. CD's, ob nun für Software oder Musik, werden mit immer rigideren Lizenzbedingungen und Kopierschutz versehen. Das Hacken eines Kopierschutzes wird zur Straftat. DVD's sind mit Ländercodes versehen, damit die Filmindustrie weiterhin ihr lokal gestaffeltes Vorgehen in der Vermarkung praktizieren kann. Die Musikindustrie lässt in den USA Universitätscomputer überwachen, um den Tausch von MP3's etc. zu unterbinden. Die Lex Mickey Maus (vor allem auf Betreiben von Walt Disney wurde das Urheberrecht in den USA von 70 auf 90 Jahre verlängert.) wurde von den Gerichten in den USA bestätigt. Im Rahmen der Urheberrechtsverordnungen auf der Basis der EU-Richtlinie zum Urheberecht (nach dem Vorbild DMCA - Digital Millenium Copyright Act in den USA) steht immer mehr das bisher verankerte Recht zur Privatkopie auf dem Spiel.

Kurz: Informationen, für die man schon längst bezahlt hat und über die früher frei verfügt werden konnte, werden immer weniger tatsächlich zum Eigentum des Käufers, sondern bestenfalls ein Pachtgut. Was bei den genannten Beispielen noch als private Unannehmlichkeit abgetan werden kann, gewinnt Bedeutung im Bereich der Bibliotheken, die ebenfalls von einer Verschärfung des Urheberechts bedroht sind und vielleicht bald nicht mehr ihre Funktion in der einfachen gesellschaftlichen Bereitstellung von Wissen wahrnehmen können. In den USA sind Universitäten bereits dazu übergegangen, sich ihre Lehrinhalte urheberrechtlich schützen zu lassen. Bildung wird immer weniger Menschenrecht und gesellschaftliche Verpflichtung, sondern Handelsware. Die Versuche in der BRD mit der Gründung von Privatuniversitäten gehen in diese Richtung. Auch dieses Wissen wurde vor allem mit Steuergeldern aufgebaut und wird jetzt privatisiert. Der Weg in die Wissensgesellschaft ist zunächst einer der Enteignung der Gesellschaft selber vom Wissen. Und Wissen ist das Produktionsmittel der Zukunft.

Und was ist mit GNU (= GNU's Not Unix, das erste rekursive Akronym)? Ist die GPL ( Die GNU Public License ist die erste rekursive Lizenz. Sie erlaubt die freie Weiterverbreitung von Software, wenn die Lizenz beigefügt wird, und die freie Weiterverarbeitung, wenn die Produkte selbst wieder unter die GPL gestellt werden.) nicht ein Gegenbeispiel? Die Open Source / Free Software Bewegung hält sich in der Tat noch wie ein kleines gallisches Dorf, mit der GPL als Zaubertrank, kann die Bedeutung sogar noch ausbauen. Aber genau diese gewachsene Bedeutung könnte sich schon in naher Zukunft als verhängnisvoll erweisen. Sie gerät, speziell durch die zunehmende Bedeutung von Linux, zwischen Hammer und Amboss. Unmittelbar bedrohlich könnten sich Attacken von Microsoft (Steve Ballmer: GPL ist Kommunismus) auswirken, die GPL zu torpedieren, da sie Microsofts Ansatz von Closed Source Grenzen setzt. Dazu hat Microsoft inzwischen SCO gekauft, die die Rechte an Unix zu besitzen behauptet. SCO behauptet, bei Linux sei Quellcode von Unix geklaut, ohne allerdings bisher Beweise vorgelegt zu haben. Da dies bisher wenig wirkte, scheinen sie jetzt einen Angriff auf die GPL zu starten. Mittelbar und vielleicht verheerender könnte sich das Engagement von IBM auswirken. IBM beschäftigt zur Zeit etwa 150 Softwareentwickler mit der Weiterentwicklung von Linux und bekennt sich dabei voll zu Open Source. Dies geschieht aber nicht, weil IBM in den neunziger Jahren von Kommunisten unterwandert worden wäre (Früher war die Patent und Lizenzpolitik von IBM die restriktiveste überhaupt, Microsoft selbst heute dagegen harmlos. IBM ist bis heute jährlich der größte Einzelantragssteller für Patente weltweit.), sondern weil sie eine Alternative zum Monopol von Microsoft auf der einen und der Zersplitterung von der kommerziellen Unixe (wozu sie selbst beigetragen haben) auf der anderen Seite brauchen. Vieles ihrer kommerziellen Software wird auf Linux als Plattform ausgerichtet. Irgendwann wird IBM die Notwendigkeit verspüren, mehr Kontrolle auszuüben, z.B. wenn auch Sun oder HP sich verstärkt in dieser Richtung engagieren und es zu Richtungsstreitigkeiten kommt. Es gibt mindestens drei Möglichkeiten, wie die GPL scheitern kann. Erstens kann irgendein Gericht, vor allem US-Gericht auf Antrag von IBM oder Microsoft oder jemand anders die GPL für ungültig erklären. Dies ist bisher nicht geschehen, weil deren praktische Bedeutung bisher zu gering war und weil sie juristisch so gut gestrickt ist, dass eine Niederlage der Klage und damit die Zementierung der GPL nicht unwahrscheinlich ist. Deshalb ist diese Möglichkeit die unwahrscheinlichste. Die wahrscheinlichste Möglichkeit ist der Verbot der GPL und aller rekursiven Lizenzen als Handelsrestriktion durch die WTO. Sollte dies trotz der Ungleichheit der Stimmenverteilung durch ein Bündnis EU, China, Russland und Trikont, die darin eine Möglichkeit zur Verringerung der Abhängigkeit von US-Konzernen sehen, verhindert werden, bleibt als dritte Möglichkeit eine US-Gesetzgebung, die dann wie die DMCA faktisch weltweite Geltung erlangt. Bei aller Sympathie und Unterstützung für Open Source / Free Software im allgemeinen und die GPL im besonderen bleibt die Widerstandsfähigkeit offen, da noch nicht wirklich getestet.

Trotzdem sollte jeder, der irgendwie Information verarbeitet oder produziert, also auch Künstler, und eine kommerzielle Vereinnahmung verhindern will, auf die GPL oder eines der Derivate zurückgreifen. Diese Empfehlung kann man auch nur den Menschen in der Dritten Welt geben. Die vorhandenen biologische und wissensmäßigen Ressourcen müssen so bald wie möglich von diesen Menschen unter eine kapitalismuskonforme rechtliche Absicherung gestellt werden. Asien, Afrika und Südamerika könnten je ein nichtkommerzielles Institut zur biologischen Erforschung gründen und die Ergebnisse mit einer offenen Lizenz absichern. Das biotechnologische Know How wäre auf Kuba (Fidel Castro hätte auf seine alten Tage nochmal so richtig Spaß!) vorhanden. Dies bietet gewiss keine absolute Sicherheit gegen spätere Expropriation durch wen auch immer. Es ist auch kein revolutionärer Akt. Es ist aber der Weg, der die Aneignung durch die großen Konzerne am meisten erschwert und in einem quasi gewerkschaftlichen Sinne das meiste für die betroffenen Menschen herauszuholen verspricht.

Zwei wichtige, eng miteinander verknüpfte Aspekte der gegenwärtigen Entwicklung verdienen noch Beachtung, um so mehr, als sie auch bei der Diskussion des Widerstandes gegen die ursprüngliche biologische Akkumulation (fälschlich Globalisierung genannt) eine große Rolle spielen: Öl und Schulden. Beide sind über die Ölkrise Anfang der siebziger Jahre miteinander verknüpft. Damals setzte die OPEC höhere Ölpreise durch. Öl ist der Schlüsselrohstoff der chemischen Phase des Kapitalismus, das Pendant zum Grund- und Boden des Feudalismus. Die Ölkrise markiert deshalb auch den Anfang des Endes dieser Phase, die erste Attacke der ursprünglichen biologischen Akkumulation auf die vorherige Phase des Kapitalismus. Der erhöhte Ölpreis bewirkte eine ungeheure Abschöpfung von Extraprofit, der durch die niedrigen Erstehungskosten des Rohstoffes bisher an der Akkumulation vorbei in den Konsum floss bzw manche uneffektive Produktion stützte. Diese Gewinne wurden zum Teil in den Konsum in den Ölstaaten gesteckt, zum überwiegenden Teil aber dem Kapitalmarkt zur Verfügung gestellt. Diese Petrodollars bildeten die Basis für die zunächst preiswerte staatliche Kreditaufnahme in der zweiten Hälfte der siebziger, die aber dann in die Schuldenkrise der frühen achtziger Jahre mündete. Diese Staatsschulden sind der finanzielle Hebel der ursprünglichen biologischen Akkumulation. Auch in der ersten ursprünglichen Akkumulation haben Staatsschulden diese Rolle gespielt.

Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats - ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch - drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist - ihre Staatsschuld.
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Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation. Wie mit dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeugungskraft und verwandelt es so in Kapital, ohne daß es dazu nötig hätte, sich der von industrieller und selbst wucherischer Anlage unzertrennlichen Mühwaltung und Gefahr auszusetzen.
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Mit den Staatsschulden entstand ein internationales Kreditsystem, das häufig eine der Quellen der ursprünglichen Akkumulation bei diesem oder jenem Volk versteckt. So bilden die Gemeinheiten des venetianischen Raubsystems eine solche verborgne Grundlage des Kapitalreichtums von Holland, dem das verfallende Venedig große Geldsummen lieh. Ebenso verhält es sich zwischen Holland und England. Schon im Anfang des 18. Jahrhunderts sind die Manufakturen Hollands weit überflügelt und hat es aufgehört, herrschende Handels- und Industrienation zu sein. Eins seiner Hauptgeschäfte von 1701-1776 wird daher das Ausleihen ungeheurer Kapitalien, speziell an seinen mächtigen Konkurrenten England. Ähnliches gilt heute zwischen England und den Vereinigten Staaten. Manch Kapital, das heute in den Vereinigten Staaten ohne Geburtsschein auftritt, ist erst gestern in England kapitalisiertes Kinderblut.
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Da die Staatsschuld ihren Rückhalt in den Staatseinkünften hat, die die jährlichen Zins- usw. Zahlungen decken müssen, so wurde das moderne Steuersystem notwendige Ergänzung des Systems der Nationalanleihen. Die Anleihen befähigen die Regierung, außerordentliche Ausgaben zu bestreiten, ohne daß der Steuerzahler es sofort fühlt, aber sie erfordern doch für die Folge erhöhte Steuern. Andrerseits zwingt die durch Anhäufung nacheinander kontrahierter Schulden verursachte Steuererhöhung die Regierung, bei neuen außerordentlichen Ausgaben stets neue Anleihen aufzunehmen. Die moderne Fiskalität, deren Drehungsachse die Steuern auf die notwendigsten Lebensmittel (also deren Verteuerung) bilden, trägt daher in sich selbst den Keim automatischer Progression. Die Überbesteuerung ist nicht ein Zwischenfall, sondern vielmehr Prinzip. In Holland, wo dies System zuerst inauguriert, hat daher der große Patriot de Witt es in seinen Maximen gefeiert als das beste System, um den Lohnarbeiter unterwürfig, frugal, fleißig und ... mit Arbeit überladen zu machen. Der zerstörende Einfluß, den es auf die Lage der Lohnarbeiter ausübt, geht uns hier jedoch weniger an als die durch es bedingte gewaltsame Expropriation des Bauern, des Handwerkers, kurz aller Bestandteile der kleinen Mittelklasse. Darüber bestehn keine zwei Meinungen, selbst nicht bei den bürgerlichen Ökonomen. Verstärkt wird seine expropriierende Wirksamkeit noch durch das Protektionssystem, das einer seiner integrierenden Teile ist.
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Der große Anteil an der Kapitalisation des Reichtums und der Expropriation der Massen, der auf die öffentliche Schuld und das ihr entsprechende Fiskalitätssystem fällt, hat eine Menge Schriftsteller, wie Cobbett, Doubleday und andre, dahin geführt, mit Unrecht hierin die Grundursache des Elends der modernen Völker zu suchen.
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Das Protektionssystem war ein Kunstmittel, Fabrikanten zu fabrizieren, unabhängige Arbeiter zu expropriieren, die nationalen Produktions- und Lebensmittel zu kapitalisieren, den Übergang aus der altertümlichen in die moderne Produktionsweise gewaltsam abzukürzen. Die europäischen Staaten rissen sich um das Patent dieser Erfindung, und einmal in den Dienst der Plusmacher eingetreten, brandschatzten sie zu jenem Behuf nicht nur das eigne Volk, indirekt durch Schutzzölle, direkt durch Exportprämien usw. In den abhängigen Nebenlanden wurde alle Industrie gewaltsam ausgerodet, wie z.B. die irische Wollmanufaktur durch England. Auf dem europäischen Kontinent ward nach Colberts Vorgang der Prozeß noch sehr vereinfacht. Das ursprüngliche Kapital des Industriellen fließt hier zum Teil direkt aus dem Staatsschatz.
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"Warum", ruft Mirabeau, "so weit die Ursache des Manufakturglanzes Sachsens vor dem Siebenjährigen Krieg suchen gehn? 180 Millionen Staatsschulden!"
- Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW 23 S.782-784

Wenn Leute wie Robert Kurz die Menge des internationalen Buchgeldes als nicht mehr durch das Kapital der materialen Produktion gedeckt sehen, als reine Spekulationsblase betrachten - trotz des letzten Börsenkrachs gibt es immer noch einen Überschuss an Finanzkapital - und mit dessen Ende auch das Ende des Kapitalismus kommen sehen, verkennen sie die Funktion dieser Finanzmasse. Sie stellt nicht nur das notwendige ursprüngliche Kapital für die biologische Akkumulation gebündelt bereit. Diese Finanzmasse ist wesentlich auch gedeckt durch die Aussicht auf den Raub der noch nicht kapitalisierten Biologie und Information. Mit diesem Geld wurde das Nervensystem des biologischen Kapitalismus auf die notwendige Größe gebracht, das Internet. Weitere Wellen werden folgen bei größeren verwertbaren Fortschritten der Gentechnik, der Reproduktionsmedizin, der Nanotechnologie und ihrer Synergien. Alle werden mit einem Hype beginnen und mit einer Kapitalvernichtung enden. Und jedesmal läuft der Kapitalismus weiter. Kurz hat in sofern recht, als die von ihm benannten Symtome das Ende eines Kapitalismus bedeuten, des chemischen nämlich. Aber dies ist nicht das Ende des Kapitalismus überhaupt, sondern der Anfang einer neuen Phase, der biologischen.

Sobald dieser Umwandlungsprozeß nach Tiefe und Umfang die alte Gesellschaft hinreichend zersetzt hat, sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital verwandelt sind, sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eigenen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit und weitere Verwandlung der Erde und anderer Produktionsmittel in gesellschaftlich ausgebeutete, also gemeinschaftliche Produktonsmittel, daher die weitere Expropriation der Privateigentümer, eine neue Form. Was jetzt zu expropriieren, ist nicht länger der selbstwirtschaftende Arbeiter, sondern der viele Arbeiter exploitierende Kapitalist.

Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, [...]
- Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW 23 S.790

Auch die Behauptung, das dem Kapitalismus die Arbeit ausgeht, ist noch nicht gesichert. Es ist z.B. möglich, dass der breite Einsatz embryonalen Stammzellen eine Industrie der Eizellenproduktion hervorbringen könnte. Ebenso ist es möglich, dass die Erzeugung von künstlichen Organen auf menschliche Brutkästen, organisiert im industriellen Maßstab, noch eine zeitlang angewiesen ist. Was zur Zeit geschieht, ist die weltweite Herauslösung des Proletariats aus den Fesseln der fordistischen Arbeitsverhältnisse, sofern dieses sie überhaupt noch hat oder jemals hatte. Auch die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft ist hier zu nennen. Zusammen mit dem Outsourcing führt sie zu einer weniger monolithischen als viel mehr organischen Organisation des Produktionsprozesses. Noch ist die neue Stufe der Produktion nicht so weit, all dies variable Kapital zu verwerten, aber schon bald wahrscheinlich in einer Weise, die einen grausen lässt.

Zum Schluss möchte ich stellvertretend für alle anderen auf eine Autorin, Vandana Shiva, eingehen, die einerseits teils klar erkennt, dass der Kapitalismus in eine neue, eben biologische Phase eintritt, andererseits aber eine reaktionäre Position der Verhinderung einnimmt und dem Kapitalismus eine romantisch verklärte vorkapitalistische Gesellschaft entgegenstellt. Außerdem unterstellt sie dem Kapitalismus und dem wissenschaftlichen Reduktionismus eine zu geringe Fähigkeit, ökologische Probleme anzugehen, weil sie beide mit der noch der Chemie verhafteten Phase gleichstellt. Teilweise sind die Fehleinschätzungen bezüglich der biologischen Fähigkeiten sicherlich auch mit dem Erscheinungsjahr 1997 des Buches Biopiracy ( dt. Vandana Shiva, Biopiraterie - Kolonialismus des 21. Jahrhunderts, Münster 2002) zu erklären. Aber solche Fehleinschätzungen sind auch heute noch gängig. Deshalb lohnt es sich durchaus noch, sich damit auseinanderzusetzen.

Der Grundeinschätzung von Shiva über die Notwendigkeit des Kapitalismus, dass er zum Überleben sich weiter ausdehnen muss und dass er diese Ausdehung in den biologischen Bereich vornimmt, ist unbedingt zuzustimmen.

Durch Patente und Gentechnik werden neue Kolonien geschaffen. Das Land, die Wälder, die Flüsse, die Ozeane und die Atmosphäre - alle sind sie kolonialisiert, ausgelaugt und verschmutzt. jetzt braucht das Kapital neue Kolonien, in die es für seine weitere Akkumulation eindringen und die es ausbeuten kann. Diese neuen Kolonien sind aus meiner Perspektive die Innenräume der Körper von Frauen, Pflanzen und Tieren. Der Widerstand gegen Biopiraterie ist ein Widerstand gegen die ultimative Kolonisation des Lebens selbst - sowohl der Zukunft der Evolution, als auch der Zukunft nichtwestlicher Traditionen in Bezug auf die Natur und das Wissen über sie. Es ist ein Kampf, um der Artenvielfalt die Freiheit zur Entwicklung zu gewähren. Es ist ein Kampf, um der kulturellen Vielfalt den Freiraum zur Entwicklung zu lassen. Es ist ein Kampf um die Bewahrung sowohl der kulturellen als auch der biologischen Diversität.
- Biopiraterie, S. 15f

Auch dem Unbehagen über diese Kolonialisierung kann man folgen. Zwei Punkte sind allerdings zu kritisieren. Relativ harmlos ist die falsche Einschätzung, dass die Artenvielfalt nur gegen den Kapitalismus zu erhalten ist. Sie muss nur gegen den chemischen Kapitalismus verteidigt werden. Der biologische Kapitalismus legt schon Gendatenbanken an, um für die Zukunft die Ressource Genetische Vielfalt zu erhalten. Wirklich bedenklich ist allerdings die Gleichschaltung von biologischer und kultureller Vielfalt. Aus gutem Grund hat sich schon Horkheimer gegen die Einrichtung von Kulturschutzparks ausgesprochen. Menschen werden in ein überkommenes, quasibiologisches Schema gepresst. Das Ziel wirklicher Emanzipation muss es sein, den Menschen von solchen Fesseln zu befreien.

Shiva greift immer wieder den wissenschaftlichen Reduktionismus an und bringt gegen diesen die Wissenssysteme der indigenen Gesellschaften in Anschlag. Hierin liegen zwei Probleme. Zum einen wird die Leistungsfähigkeit des Reduktionismus unterschätzt, zum anderen werden zum Teil ausgesprochen autoritäre und hermetische Gesellschaften glorifiziert.

Die biologische Wissenschaft hat zwar in ihrer strikt reduktionistischen Form, ausgehend von den grundlegenden chemischen Komponenten des Lebens RNA und DNA, lange gebraucht, bis sie über die einzelnen Stufen der Genexpression zu einem systemischen Ansatz vorgedrungen ist, und ist in weiten Teilen noch immer dabei. Ist dies aber erst einmal im Prinzip geschafft, erzwingt die weitere Erkenntnis einen solchen Ansatz. Die Wissenschaft war bisher immer in der Lage, solche neuen Ansätze aufzunehmen, die bisherige Paradigmen in Frage stellen (Unschärferelation, Relativitätsprinzip, Berechenbarkeitsprobleme etc.). Sie wird es auch in der Biologie schaffen, ist sogar schon dabei.

Das Gen zu kennen, das hinter einer Fehlbildung steckt, reicht nicht aus, um eine gezielte Behandlungsstrategie zu entwickeln. Vielmehr muss man das gesamte Regulationsnetzwerk verstehen, in das ein solches Gen eingebettet ist.
- Imke Ortmann, Spektrum der Wissenschaft, Juni 2003

Solange die Gene nicht endgültig kartiert waren, wäre alles weitere immer mit dem Moment der Spekulation behaftet gewesen. Jetzt erfolgt eine weitgehende Entschlüsselung der Mechanismen der Proteinsynthese und deren Zuordnung zu den Genen. Dann erfolgt die Einordnung der Proteinsynthese in die weitere Zellbiologie etc. Am Ende wird gerade die reduktionistische Biologie eine komplette Erkenntnis der Biologie von der Zelle bis zum Gesamtökosystem Erde liefern. Dies wird allerdings noch etwas dauern: Step by Step.

Auf der ökonomischen und politischen Ebene ist dieser Vorgang allerdings etwas schwieriger, da im Allgemeinen mit einem veralteten Stand der Gesellschaft immer auch Macht, Privilegien und eingesetztes Kapital auf dem Spiel stehen. Speziell die USA haben ihre Position als Weltmacht in der Hochphase des chemischen Kapitalismus und auf der Basis der petrochemischen und fordistischen Industrie erlangt. Diese Industrie steht jetzt zur Ablösung an. Dies erklärt hinreichend die politischen Eskapaden der Regierung Bush. Zwar gibt es auch in den USA biotechnologische Konzerne wie Monsanto. Aber diese agieren noch weitgehend nach dem chemischen Paradigma.

Die Konflikte zwischen den USA (noch an der Chemie festhaltend) und Europa (schon auf dem Weg in die biologische Gesellschaft und gerade deshalb die überholte chemische Genttechnik ablehnend) haben hier ihre tieferen Wurzeln, ohne dass den Akteuren dies bewusst wäre.

Dies nicht zu verstehen, ist zwar ein Fehler von Shiva, aber nicht sehr problematisch. Die Mystifizierung alter Gesellschaften aber schon.

Die Beseitigung der animistischen organischen Ansichten über den Kosmos bedeuteten den Tod der Natur - der weitreichendste Effekt der wissenschaftlichen Revolution.
- Biopiraterie, S.60

Ökologisch gesehen beinhaltet diese Herangehensweise die Anerkennung des Wertes der Diversität an sich. Alle Lebensformen haben ein inhärentes Recht auf Leben; das sollte der übergeordnete Grund für das Bemühen sein, das Aussterben von Arten zu verhindern. Auf sozialer Ebene muss der Wert der Biodiversität in unterschiedlichen kulturellen Kontexten anerkannt werden. Die Wahrnehmung von Hainen, Samenkörnern, Pflanzen- und Tierarten als Heiligtümer waren das kulturelle Mittel, um der Biodiversität Unverletzlichkeit zu verleihen. Dies lieferte uns die besten Beispiele für praktischen Naturschutz. Gemeinderechte auf Biodiversität und die Beiträge der Bäuer/innen und indigenen Völker zur Evolution und zum Schutz der Biodiversität muss man dadurch würdigen, dass ihre Wissenssysteme als zukunftsweisend anerkannt werden, statt sie als primitiv zu betrachten. Zusätzlich müssen wir akzeptieren, dass nicht vermarktbare Werte wie Sinngebung und Subsistenzfähigkeit nicht zweitrangig gegenüber vermarktbaren Werten sind.
- Biopiraterie, S.88

Die Mystifizierung alter Gesellschaften bedeutet, dass die Auseinandersetzung mit dem biologischen Kapitalismus primär als Abwehrkampf geführt wird. So vergeben die Länder im Trikont viele Chancen, die sie bei der intelligenten und offensiven Nutzung ihrer biologischen Ressourcen hätten. Die historisch unvermeidbare und auch wünschenswerte Auflösung beengter und autoritärer Strukturen wird verzögert und in Zukunft immer gewalttätigere Formen annehmen. Es ist nicht nur der Strukturimperialimus, der die Entstehung und Weiterverbreitung des Warlordismus fördert, sondern auch die Weigerung vieler Gesellschaften, einen geordneten Übergang zum Kapitalismus mit bürgerlichem Überbau zu vollziehen. Damit können kleine autoritäre Strukturen nicht in eine große nationale überführt werden, sondern behaupten sich transformiert im Kleinen. Dies gelingt aber nur durch den permanenten Kriegszustand.

Indigene Gesellschaften werden von Shiva wie Ökosysteme unter Naturschutz gestellt. Ihre Wissenssysteme sollen erhalten werden. Dies ist letzendlich nur möglich, wenn sie von den Einflüssen des Westens abgeschottet werden. Und dies ist, wie Kambodscha, Iran und Nordkorea zeigen, nur mittels autoritärer Systeme möglich. Entscheidend ist für eine Ablehnung einer solchen Position der inhärente Antihumanismus. Menschen werden hier nicht als etwas über die Natur hinausweisendes wahrgenommen. Die Humanität erweist sich in der Fähigkeit jedes einzelnen Menschen, selber zu denken und sich über seine Ursprünge hinaus zu entwickeln. Der Mensch strebt von Natur aus nach Wissen, sagt Aristoteles. Shiva verweigert Menschen im Interesse der ökologischen Erhaltung der Kulturen die Aneignung des Wissens der westlichen Wissenschaft. Auch wenn diese Wissenschaft selber schon nicht mehr das Ideal des Humanismus weiterträgt, ist doch die Art, wie in der westlichen Wissenschaft Wissen generiert und weitergeben wird, doch inhärent humanistisch. Westliches Wissen beruht auf der Abwesenheit des Autoritätsbeweises. Etwas ist nicht deswegen richtig, weil ein Guru, Schamane oder die Tradition es so wollen. In der westlichen Wissenschaft ist erst dann etwas richtig, wenn es auf der Grundlage von Empirie in eine logische Form gebracht wird, die von allen Menschen mit etwas Nachdenken verstanden werden kann. Jedem steht es frei, etwas Mathematik zu lernen und die Ergebnisse nachzuvollziehen. Dies ist selbstverständlich nicht gesellschaftliche Praxis. Die Ausbeutung der Menschen und ihr Festhalten an vorrationalen Formen des Denkens verhindert dies. Aber in den vorwissenschaftlichen Wissenssystemen wird die einfache Aneignung schon durch die Struktur des Wissens selber verhindert. Das westliche Wissen garantiert nicht eine emanzipierte Umgehensweise mit dem Wissen, verhindert diese aber auch nicht. Die volle Erfassung der Natur durch die westliche Wissenschaft als Emanzipation von der Natur ist sogar eine notwendige Voraussetzung der umfassenden menschlichen Emanzipation.