Herr/Knecht, Ödipus und Anti-Ödipus - PDF

Es gibt drei Phasen der kapitalistischen Entwicklung: die mechanisch-physikalische, die chemische, die biologische Phase.

Diesen drei Phasen entsprechen drei Phasen in der frühkindlichen Entwicklung: die orale (das mechanische Saugen), die anale (das Sich-Kümmern um die Verarbeitung der Nahrung und ihrer Ausscheidungsprodukte), die uteralphallische (1) (die erste Wahrnehmung der eigenen Fortpflanzungsorgane).

Alle bisherigen Gesellschaften inklusive der gegenwärtigen gehörten noch der Vorgeschichte im marxschen Sinne an. Deshalb können sie nicht im vollem Umfange als menschlich bezeichnet werden. Die Menschheit befindet sich noch immer auf dem Weg zur Menschwerdung. Dies bringt Probleme für jedes Kind mit sich, das die ersten drei Phasen hinter sich hat, denn es gibt kein eigentlich menschliches Modell für die nächste Phase.

Die nächste Phase ist die erste Begegnung mit Gesellschaftlichkeit - Menschlichkeit. Das Kind muss Kontakt mit seinen ersten Bezugspersonen - meistens die Eltern, aber eben nicht immer und nicht nur - aufnehmen. Da eine ureigenst menschliche Form der Gesellschaft nicht zur Verfügung steht, wird es auf die in der Gesellschaft vorherrschenden Paradigmen der menschlichen Vorgeschichte verpflichtet.

In der individuellen Lebensgeschichte wird die Entfremdung dem Individuum nicht zuerst durch den entfremdeten Arbeitsprozeß direkt vermittelt, sondern durch die Agenten des Arbeitsprozesses: durch die Eltern und die weiteren Erzieher. Die individualgeschichtliche, subjektive Erfahrung der Entfremdung beginnt also im pädagogischen Prozeß, nicht im ökonomischen. Dies rüttelt natürlich nicht an der Tatsache, daß die Entfremdung objektiv im ökonomischen Prozeß wurzelt und nicht im pädagogischen. Die Kommunikation, die sich im pädagogischen Bereich abspielt, reflektiert die Entfremdungsverhältnisse im ökonomischen Bereich. Die ökonomisch konstituierten zwischenmenschlichen Beziehungen reproduzieren sich zuerst im Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Auf diese Weise sind die Kinder vom Arbeitsprozeß geprägt, noch ehe sie in ihn eingetreten sind.
- Dieter Duhm, Warenstruktur und zerstörte Zwischenmenschlichkeit, Rosa Luxemburg Verlag Köln, 2. Auflage 1974, S. 103

In vorkapitalistischen Zeiten waren die drei Naturdialektiken noch nicht so sauber getrennt wie im Kapitalismus mit seiner Betonung der Entwicklung der Produktivkräfte, weswegen diese oft ein rudimentäres Modell der Menschlichkeit anbieten konnten. Genau wegen dieser Trennung der Dialektiken wird aber im Kapitalismus diese vierte Phase der kindlichen Entwicklung mit nichtmenschlichen Dialektiken überformt.

Hier geht es nicht um detaillierte Kinderpsychologie. Es geht um einige große Linien der Sozialisation. Diese verlieren auch im Erwachsenenalter nicht ihre prägende Wirkung, sofern sie nicht in einem bewussten Akt der Emanzipation überwunden werden.

Die drei Überformungen der frühkindlichen Sozialisierung

Die Überformung der menschlichen Phase ist nicht so offensichtlich. So wie sich die Dialektik einer Gesellschaft dieser nicht offen zeigt, ist auch die Dialektik dieser Phase verborgen. Für die erste Phase des Kapitalismus gibt es leider wenig Material oder Untersuchungen über die vierte Phase der Kindheitsentwicklung. Aber Bilder dieser Zeit zeigen Kinder als Quasi-Erwachsene. So ist anzunehmen, dass sie stark von Hegels Herr-und-Knecht Schema geprägt war. Für die zweite Phase des Kapitalismus haben wir Freuds Ödipuskomplex. Freuds Vorstellung des Ödipuskomplex ist stark angefeindet worden. Richtig ist, dass er das vorherrschende Schema seiner Zeit verallgemeinert. Aber in einer Zeit, die den Aufstieg der chemischen Industrie erlebt, ist der Ödipuskomplexe die angemessene Metapher. 1968 leitet eine bürgerliche Revolution den Übergang zur biologischen Phase des Kapitalismus ein. Passend werden Formen der freien Liebe und der antiautoritären Erziehung propagiert. Die kindliche Sexualität wird entdeckt und gefördert. Die Ökologiebewegung nimmt ihren Lauf bis zum deutschen (europäischen?) Außenministerium. Eines der prägenden philosophisch-psychologischen Bücher ist der Anti-Ödipus von Deleuze/Guattari. Der Anti-Ödipus ist die Wunschmaschine. Die Wunschmaschine ist die Verlängerung der uteralphallischen Phase in die Phase der Vergesellschaftung.

Aber besteht keine Hoffnung auf eine originär menschliche Vergesellschaftung des Kindes? Doch! Nach der Revolution! Im Einzelfall wird es jetzt schon gehen, wenn die Erziehenden sich mühevollerweise selbst ein gutes Stück emanzipiert haben und in der Lage sind, wirklich emotionale menschliche Kontakte aufzubauen. Aber dies bleiben vorläufig Ausnahmen.

Die Metapher für die künftige menschliche Sozialisation gibt es aber bereits. Dies ist das Antlitz. Levinas benutzt diesen Begriff, um einen extremen Humanismus zu etablieren, in dem die Ethik die Rolle der ersten Philosophie übernimmt. Damit verabschiedet Levinas auf der äußersten theoretischen Ebene die Vorgeschichte der Menschheit.

Warum steht Herr/Knecht für die mechanische Phase des Kapitalismus?

Trotz der Dialektik der Beziehung von Herr und Knecht ist sie im wesentlichen eine mechanische Gegenüberstellung. Der Knecht ist bloßes Werkzeug seines Herrn. Der Knecht bleibt in seiner fremdbestimmten Tätigkeit gebunden an die Dinge. Der Herr kann sich von der Spiegelung im Knecht über den stoischen Rückzug in das eigene Denken bis zum Skeptizismus entwickeln, verbleibt aber in in seinem unglücklichen Bewusstsein. In der mechanischen Phase bildet sich ein erster Humanismus aus, der allerdings nur ein Humanismus des bürgerlichen weißen Mannes ist. Diesem weißen Mann sind andere (vor allem das Andere) trotz seines Humanismus und trotz Kant ( Er wollte den Menschen nicht bloß als Mittel gesetzt haben, war aber eben auch von Rassismus nicht frei.) in der Regel bloßes Mittel. Es ist eine Zeit (mit Ausnahme von Hegel, der aber nur das Überschiessen der bürgerlichen Revolution des Denkens bildet, nicht seine Essenz), in der der Verstand mit Vernunft, aber die Vernunft ohne Verstand (Hegel über Kant) behandelt wurde. Dieses bloß verständige, nicht vernünftige Bewusstsein kann keine Zielsetzung entwickeln, die mehr ist als eine unendliche Regression der Mittel.

Der Existentialismus beginnend mit Kierckegard ist der bürgerliche Versuch, die bürgerliche Entfremdung aufzuheben. Alle Ansätze der bürgerlichen Philosophie, den Positivismus des instrumentellen Denkens zu überwinden, muss hiervon ausgehen. Praktisch wendet sich solches Denken immer einem abstrakten Sein zu, dass aber vom konkreten Sein der Produktionsmittel sich nicht entfernen kann.

Warum steht Ödipus für die chemische Phase des Kapitalismus?

Ödipus ist der Versuch einer Selbstermächtigung, einer Hybris. Diese erfolgt aber nicht in direkter Absicht. Damit erweist sich die Geschichte von Ödipus als wahrhaft tragisch. Der Held wird schuldlos schuldig. Ödipus ist auch die Geschichte des Scheiterns der Sexualität an der Autorität. Ödipus steht für die Selbstblendung. Ödipus steht auch für die Erfüllung eines unausweichlichen Geschicks. Der erste, der diese Art der Schicksalhaftigkeit im Denken reproduziert, ist Schopenhauer. Sein Wille ist nichts anderes als die Unterwerfung unter die Geschicke des Seins, er ist im Grunde das Sein selber. Freud nimmt dann die Figur des Ödipus als vierte Phase der Kindheitsentwicklung. Freud verfängt sich darin, diese Form der vierten, in die Gesellschaft einführenden Phase als überzeitlich universell zu erklären. Sie ist aber nur spezifisch für die chemische Zeit des Kapitalismus, eine durch anale Ordnungsstrukturen und Autorität geprägte Zeit. Die ödipale Phase ist die Aggression gegen Sexualität und Regression auf die anale Phase, da die Produktivkraftentwicklung des Kapitalismus in dieser Zeit nichts anderes anzubieten hat.

Der Nationalsozialismus versucht, eine vollständig anal geprägte Gesellschaft zu schaffen. In seiner Abwehr des an sich biologischen Kapitalismus und des menschlichen Kommunismus reproduziert er auf allen Ebenen die Momente des Ödipus. Ist aber Ödipus noch schuldlos schuldig, so ist der Nationalsozialismus von einer Selbstverblendung gegenüber der Schuld geprägt (von Anfang an, nicht erst nach der militärischen Niederlage), die es verbietet, von einer Schuldlosigkeit zu sprechen. Aber als rhetorische Figur ist das Schuldlosschuldigsein omnipräsent. In theoretischer Hinsicht spielt diese Figur bei Heidegger eine große Rolle. Dies gilt auch für die Figur des willenlosen Handelns. Heidegger versucht dem Tod im Geviert, dem Geschick, dem Man zu entkommen, zur Eigentlichkeit, zum Sein zu finden. Aber die Kehre muss notwendig misslingen.

Warum steht Anti-Ödipus für die biologische Phase des Kapitalismus?

Freud bestimmt die Sexualität des Kindes als polymorph pervers. Es ist noch ohne Ziel, kann unterschiedlichste Befriedigung sich suchen. Es geht um reine Libido.

Der Anti-Ödipus ist die Wunschmaschine. Auch wenn die Achtundsechziger den Konsum kritisiert haben, so haben sie ihm doch recht eigentlich erst den Weg bereitet. Die uteralphallische Welt ist die des sich zu Tode Amüsierens. Es ist die Welt der ununterbrochenen Loveparade - und sei es auch nur in der Werbung oder beim Stadtfest in Pinneberg. Es ist eine infantile Welt, da kein Bruch mehr zwischen Kindheit und Erwachsensein stattfindet. In traditionellen Gesellschaften gibt es Initiationsriten, die diesen Übergang psychisch ermöglichen sollen und gleichzeitig den Menschen wieder in die Gemeinschaft einfangen. Diese Initiationsriten sind in der letzten biologischen Phase des Kapitalismus obsolet geworden, auch wenn sie hier und da noch praktiziert werden. Denn das Kind ist den traditionellen Einschränkungen nicht mehr unterworfen. Der Erwachsene kann auch nicht mehr in eine Gemeinschaft eingebunden werden. So werden Initiationen tendenziell gefährlich, da sie auf eine menschliche Phase verweisen könnten.

In Wahrheit ist die gesellschaftliche Produktion allein die Wunschproduktion selbst unter bestimmten Bedingungen. Wir erklären, daß das gesellschaftliche Feld unmittelbar vom Wunsch durchlaufen wird, daß es dessen historisch bestimmtes Produkt ist und daß die Libido zur Besetzung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse keiner Vermittlung noch Sublimation, keiner psychischen Operation noch Transformation bedarf. Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaflliche, nichts sonst.
- Gilles Deleuze, Felix Guattari: Anti-Ödipus Frankfurt 1977, S.39

Für Deleuze/Guattari ist der Anti-Ödipus personifiziert im Schizo. Schizophrenie kann als der allgemeine geistige Zustand in dieser, der letzten Phase des Kapitalismus angesehen werden.

Die moderne kapitalistische Gesellschaft hat mit dem tendentielle Abbau patriarchalischer Familienstrukturen und mit der gigantischen Konsumpropaganda zwei Prozesse ins Rollen gebracht, die bei der gesellschaftstheoretischen Anwendung psychoanalytischer Begriffe berücksichtigt werden müssen: zum einen die tendenzielle Auflösung der Familie als zentraler Erziehungsagentur und zum anderen die tendenzielle Beseitigung von Bedürfnisschranken und moralischen Tabus.
- Warenstruktur und zerstörte Zwischenmenschlichkeit, S. 103

Schizophrenie ist als Krankheit durch die Desintegrantion der Persönlichkeit gekennzeichnet. Häufig geht sie mit der Unfähigkeit zum gesellschaftlichen Umgang einher. Am Ende ist es aber nicht die Schizophrenie, die die soziale Unfähigkeit hervorbringt, sondern die kapitalistische Gesellschaft, die mit ihrer Zerstörung der überkommenen Sozialität, ohne an ihre Stelle eine neue setzen zu könne, die Desintegration der individuellen Persönlichkeiten verursacht.

Warum steht das Antlitz bereits für die kommunistische Phase der Menschheit, der eigentlichen Geschichte?

Im extremen Humanismus Levinas findet sich eine unbedingte Hinwendung zum anderen Menschen als dem ganz anderen. Es ist also keine Hinwendung zur Familie, zum Dorf, zum Land oder einem sonstigen Kollektiv, dem man angehört oder angehören könnte und das damit immer auch ein Teil von einem selbst ist. Das Antlitz des anderen ist eben nicht Alter Ego. Der Andere ist immer schon gesetzt und verpflichtet zur Verantwortung. Das Antlitz ist die unbedingte Aufforderung zur Anerkennung. Du sollst nicht töten.

Was Levinas verkennt, ist die Angst der Menschen genau davor. Die Angst vor dem Antlitz ist die tiefste Ursache für den Nationalsozialismus. Genau darum ist Auschwitz auch das schrecklichste aller Verbrechen. Es sollte nicht einfach ein Feind vernichtet werden. Es sollte die Menschlichkeit überhaupt vernichtet werden, die man im Anderen, den Juden zu sehen meinte und oft, wenn man an die Leistungen jüdischer Künstler denkt und an das Engagement jüdischer Politiker und Denker, auch wirklich sehen konnte.

Das Antlitz kann nicht einfach im Gesicht gesehen werden, sondern es muss bewusst denkend wahrgenommen werden. Es verweist auf und ist bedingt durch die unbegrenzte Offenheit des menschlichen Bewusstseins und Denkens. Auch diese Offenheit macht Angst. Auch dagegen kämpfen viele an. Diese Offenheit ist immer auch eine der Offenheit von Gesellschaft. Auch vor der Offenheit der Gesellschaft haben Menschen Angst. Was soll ich denken, wenn ich alles denken kann? Wo ist mein Platz in der Gesellschaft, wenn ich jeden Platz einnehmen kann? Die prinzipielle Offenheit erfordert Entscheidungen, die einem niemand abnehmen kann, eine Verantwortung für sich selbst und andere, die einem niemand abnehmen kann.

Welche Bedeutung hat linke politische Arbeit für die individuelle Emanzipation?

Gehen wir vom Antlitz aus, so fordert es die Verantwortung für den Anderen. Solch eine Verantwortung ist immer eine praktische. Sie lässt es nicht beim guten Willen bewenden und nicht bei der Alibispende zu Weihnachten und Ostern. Deshalb erzwingt das Antlitz politisches Handeln.

Für die Achtundsechziger - und in manchen Teilen der Welt noch heute - konnte Emanzipation noch auch sexuelle Emanzipation bedeuten, die Befreiung von Ödipus zur Freisetzung der Produktion der Wunschmaschinen.

Wirkliche Emanzipation zeigt sich erst im Verhältnis zum Anderen. Der Umgang mit dem Anderen nicht als Mittel, sondern als Zweck(2) erfordert die Übernahme von Verantwortung und politisches Handeln. Somit kann nur in der emanzipatorischen, dass heißt eben linken, politischen Arbeit der Schritt zur eigenen Menschlichkeit vollzogen werden.

Das Ergebnis ist der Verlust vieler Ängste. Es bedeutet den Gewinn großer Befriedigung. Aber für jemanden, der diesen Schritt gemacht hat, ist dies nebensächlich angesichts der Sorge um den Anderen. Die heideggersche Sorge des Daseins ist da nur noch kleinlich. Damit kann eine neue politische Emanzipation nur als soziale Organisation erfolgen. Wie eine solche Organisation aussehen kann, ist nur praktisch zu erkunden. Aber sie wird weder die verkarstete Struktur der alten Arbeiterbewegungsorganisationen noch das lose Networking (Rhizom von Deleuze/Guattari ) von heute sein.

Kommunist zu sein bedeutet, die menschliche Offenheit und die damit verbundene Verantwortung bewusst vollständig anzunehmen und lustvoll in der Begegnung mit dem Anderen zu erfahren.


Anmerkungen

1. An Freud wurde zurecht kritisiert, die weibliche Seite nicht angemessen zu berücksichtigen. Deshalb verwende ich die Bezeichnung uteralphallisch. Nicht nur Mädchen spielen zum Beispiel in dem Alter "Geburt", entweder in dem sie selbst etwas unter einer Decke hervorholen oder mit einer Decke die eigene Geburt inszenieren. Diverse Variationen sind möglich. Dem Phallussymbol entsprechend gibt es ein Uterussymbol. Dies ist die Handtasche. In ihr befinden sich Machtsymbole wie Schlüssel oder Portmoney. Diese werden in einer Art Geburtsakt, der mehr oder weniger chaotisch abläuft, hervorgebracht. Kaum einer Frau gelingt es, in ihrer Handtasche Ordnung zu halten. Dies gilt auch bei Handtaschen, die durch eine Fächeraufteilung dies unterstützen würden. zurück

Nicht jeder phallisch geformte Gegenstand ist automatisch ein Phallussymbol und nicht jede Tasche ein Uterussymbol. Auch bedeutet eine scharfe analytische Trennung nicht, dass Dinge in der Realität genauso trennscharf sind. Im Gegenteil hat jeder Mensch mehr oder weniger männliche und weibliche Momente. Der Versuch, nur männlich oder weiblich zu sein, führt zu großen psychischen Schwierigkeiten.

2. Dies ist stärker gemeint als bei Kant, der lediglich fordert, dass ein Mensch nicht nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck gesehen werden soll. zurück